Digitaler Zivilprozess

Die Digitaltechnik bietet hervorragende Möglichkeiten, Zivilrechtsstreitigkeiten wesentlich effizienter und resssourcenschonender abzuwickeln als dies derzeit immer noch nach der aus dem 19. Jahrhundert stammenden ZPO geschieht.

Hierfür genügt es nicht, die Papierakte durch eine elektronische Akte (§ 298a ZPO) zu ersetzen. Die Informationstechnologie ermöglicht es, Prozessabläufe zu strukturieren, mit Prozessbeteiligten effizient zu kommunizieren und Verfahrensgrundlagen nicht nur sukzessive, sondern interaktiv zusammenzustellen.

S. hierzu meinen Beitrag „Das elektronische Basisdokument“ in Adrian/Kohlhase/Evert/Zwickel (Hrsg.), Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung, Duncker u. Humblot, 2022, S. 141 ff.

Angestoßen durch das von einer justizinternen Arbeitsgruppe erstellte Diskussionspapier „Modernisierung des Zivilprozesses“ findet mittlerweile in Rechtspraxis, Rechtswissenschaft und Rechtspolitik eine intensive Beschäftigung mit diesem Thema statt (Nachweise unten).

Mit einem Pilotprojekt Digitales Vorverfahren soll erprobt werden, wie durch eine strukturierte, computergestützte Verfahrensleitung mündliche Verhandlungen eingespart oder zumindest effektiver gemacht werden können (s. dazu https://www.reinhard-greger.de/zur-person/forschungen).

 

Eigene Stellungnahme

Das Diskussionspapier enthält wertvolle Vorschläge, wie der Zivilprozess durch den Einsatz digitaler Technik bürgerfreundlicher, effizienter und ressourcenschonender werden kann. Diese können und sollten aber noch weiter entwickelt werden.

Die Arbeitsgruppe schlägt vor, den bisher in wechselseitigen Schriftsätzen erfolgenden Sachvortrag der Parteien durch die gemeinsame, vom Gericht unterstützte Erarbeitung eines Basisdokuments zu ersetzen,  mit dessen Fertigstellung der Gegenstand des Prozesses, dem Tatbestand des Urteils entsprechend, dokumentiert wird. Dies soll in Form einer Relationstabelle geschehen, die in gesonderten Spalten das Vorbringen des Klägers und des Beklagten sowie die Hinweise des Gerichts wiedergibt.

Dieser Ansatz ist richtig, bleibt aber mit der kontradiktorischen Darstellung des Parteivorbringens noch stark dem herkömmlichen, analogen Denkmuster verhaftet.

Das gesamte Parteivorbringen sollte daher in einem einheitlichen Dokument dargestellt werden.

Zur Veranschaulichung s.  Formen eines Basisdokuments.

Vorteile des interaktiven Basisdokuments:

  • Die Parteien arbeiten gemeinsam an der Grundlage ihres Rechtsstreits.
  • Es wird deutlicher, wo die Streitpunkte, aber auch die Gemeinsamkeiten oder bloße Unterschiede in der Sichtweise bestehen; dies kann zur Verschlankung des Streitstoffs oder einvernehmlichen Lösungen beitragen.
  • Das Hochschaukeln des Konflikts durch Verfestigung der konträren Positionen wird vermieden.
  • Der Richter erkennt deutlicher die aus rechtlicher Sicht relevanten Gesichtspunkte, kann frühzeitig auf weiteren Vortrag oder Klarstellungen hinwirken, Unwesentliches ausscheiden oder Prozessstoff abschichten (§ 139 Abs. 1 S. 3 ZPO).

Sonstiges Vorbringen (z.B. Ausführungen zur Rechts- oder Beweislage, zu Hintergründen des Konflikts) sowie Anlagen kommen in einen gesonderten Ordner, lassen sich durch Links mit dem Basisdokument verbinden.

Alle Änderungen am Basisdokument werden vom System dokumentiert.

Das Basisdokument (samt Anlagenordner) wird erst dann Bestandteil der elektronischen Prozessakte, wenn das Gericht die Erstellung abschließt. Dies geschieht in der Regel nach der Replik des Klägers auf die Klageerwiderung des Beklagten. Bei relevantem (und nicht verspätetem) Neuvorbringen kann der Richter weitere Erwiderungen zulassen.

Im Urteil ersetzt die Bezugnahme auf das Basisdokument den Tatbestand.

Die Informationstechnologie ermöglicht aber über die Verklarung des Tatsachenvortrags hinaus auch Effizienzgewinne durch einen programmierten Verfahrensablauf. Dabei folgt die formelle Prozessleitung einer vorgegebenen Leitlinie, deren individueller Verlauf an bestimmten Punkten von den Prozessbeteiligten bestimmt wird.

Schematische Darstellung:

Hierbei ergeben sich folgende Vorteile:

  • Das Verfahren folgt von Anfang an einem klar strukturierten Ablauf.
  • Möglichkeiten zur unstreitigen Erledigung werden frühzeitig erkannt.
  • Alternativen zum schematischen Ablauf werden bewusst gemacht.

Wesentliche Bestandteile des Verfahrensprogramms sollten sein:

Eine Schnittstelle zu Verfahren der konsensualen Konfliktlösung (§ 278 Abs. 5, § 278a ZPO) als Ersatz für den funktionslosen § 253 Abs. 3 Nr. 1 ZPO.

Eine Strukturierungsverhandlung, bei der das Gericht nach Abschluss der Stoffsammlung mit den Parteien den weiteren Verlauf des Verfahrens abstimmt, z.B.

  • Haupttermin oder schriftliches Verfahren nach § 128 Abs. 2 ZPO;
  • Umfang, ggf. Abstufung der Beweisaufnahme;
  • vorgezogene Beweisaufnahme (§ 358a ZPO);
  • Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 144 Abs. 1 ZPO);
  • Beiziehung von Urkunden (§ 142 ZPO);
  • Einnahme eines Augenscheins (§ 144 Abs. 1 ZPO);
  • abgesonderte Verhandlung über Zulässigkeit der Klage (§ 280 ZPO);
  • einstweilige Beschränkung der Verhandlung auf einzelne Gesichtspunkte nach § 146 ZPO;
  • Anstreben eines Grund- oder Teilurteils usw.

Diese Verfahrensbesprechung (in anderen Verfahrensordnungen als case management conference o.ä. seit jeher fester Bestandteil) kann auch per Telefon- oder Videokonferenz durchgeführt werden, ggf. bereits mit Hinzuziehung eines Sachverständigen.

In diese Richtung geht auch ein Vorschlag der Arbeitsgruppe (S. 44 des Diskussionspapiers).

 

Aktuelle Tagungsberichte

Zivilrichtertag des OLG Nürnberg vom 2.2.2021

Online-Konferenz des Forschungsinstituts für Anwaltsrecht der HumboldtUniversität zu Berlin Modernisierung des Zivilprozessesam 26.2.2021 (ausführlicher Bericht in Heft 5/2021 des Anwaltsblatts, S. 280 – 293)

Online-Workshop der Universität Passau v. 19.3.2021

 

Weitere Publikationen

Buschmann/Gläß/Gonska/Philipp/Zimmermann (Hrsg.), Digitalisierung der gerichtlichen Verfahren und das Prozessrecht, 3. Tagung junger Prozessrechtswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen am 29./30.9.2017 in Leipzig

Ferrand/Knetzsch/Zwickel (Hrsg.), Die Digitalisierung des Zivilrechts und der Ziviljustiz in Deutschland und Frankreich, Tagungsband zum deutsch-französischen Forschungsatelier an der Universität Erlangen-Nürnberg v. 11.-14.3.2019

Greger, Der Zivilprozess auf dem Weg in die digitale Sackgasse, NJW 2019, 3429 ff

Rühl, Digitale Justiz, oder: Zivilverfahren für das 21. Jahrhundert, JZ 2020, 809 ff

Reuß, Die digitale Verhandlung im deutschen Zivilprozessrecht, JZ 2020, 1135

Müller/Gomm, Die Digitalisierung der Justiz am Beispiel des Zivilprozesses, jM 2021, 222 u. 266

Adrian/Kohlhase/Evert/Zwickel (Hrsg.), Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung, 2022

Reuß/Windau (Hrsg.), Göttinger Kolloquien zur Digitalisierung des Zivilverfahrensrechts, Bd. 1, 2022