Statistische Auswertungen

Die Entwicklung des Zivilprozesses in den letzten 20 Jahren

Die nüchternen Zahlen der Justizstatistik zeigen, im zeitlichen Verlauf betrachtet, wie grundlegend sich die Situation der deutschen Zivilgerichtsbarkeit in den letzten 20 Jahren verändert hat:

Die Eingangszahlen sind bei den Amtsgerichten bis zum Tiefpunkt im Jahr 2022 um rund die Hälfte (von 1,5 Millionen auf rund 715.000), bei den Landgerichten um mehr als ein Drittel( von knapp 440.000 auf rund 286.000 Klagen) zurückgegangen.

Die durch die Abgas-Affäre hervorgerufene Klagewelle führte bei den Landgerichten von 2018 bis 2020 zu einer gegenläufigen Tendenz. Die Zahl der Neueingänge stieg bis 2020 auf über 366.000 an, danach stürzte sie auf den genannten Tiefpunkt von 2022 ab. Seitdem steigen sie Neueingänge wieder leicht an, liegen aber immer noch weit (ca. 28 Prozent) unter dem Wert von 2004.

Bei den Amtsgerichten ist, nachdem die Eingänge seit 2005 um mehr als die Hälfte zurückgegangen waren, 2023 zum ersten Mal wieder eine Zunahme (um beachtliche 8 Prozent) zu beobachten. Der Blick auf die Sachgebiete zeigt aber, dass dieser Zuwachs fast ausschließlich auf Klagen wegen Fluggastentschädigung zurückzuführen ist. Deren Zahl ist von 2022 auf 2023 um 140 Prozent gestiegen und liegt jetzt bei 134.000. Sie macht damit etwa 17 Prozent des gesamten Geschäftsanfalls der deutschen Amtsgerichte aus.

Die darin liegende Fehlnutzung der Justizressourcen als Inkasso-Instrument wird noch deutlicher, wenn man die Erledigungsstruktur betrachtet. Während der Anteil der Urteile und Vergleiche zurückgeht, enden immer mehr der amtsgerichtlichen Verfahren (mittlerweile 16 Prozent) durch Kostenbeschluss wegen Erledigung der Hauptsache, d.h. Zahlung an den Kläger nach Erhebung der Klage.

Die ebenfalls fragwürdige Inanspruchnahme von Justizressourcen in den Abgas-Fällen zeigt sich darin, dass die Landgerichte deutlich häufiger durch streitiges Urteil entscheiden mussten (2022 z.B. in rund 41 Prozent der Verfahren, während die Quote in früheren Jahren bei 24 bis 28 Prozent lag). Der Großteil dieser Verfahren landete bei den Oberlandesgerichten. Während dort die Zahl der neuen Berufungsverfahren früher bei rund 50.000 lag, gingen z.B. 2021 über 81.000 neue Verfahren ein. Auch wenn diese Zahl bis 2024 wieder etwa auf das frühere Maß zurückging, führte diese Flut zu einem hohen Rückstand an offenen Verfahren. Ende 2024 waren immer noch rund 57.000 Berufungsverfahren unerledigt.

Die starke Belastung der Land- und Oberlandesgerichte schlägt sich auch in einer Zunahme der Verfahrensdauer nieder. Ein Verfahren mit streitigem Urteil dauert jetzt beim Landgericht im Durchschnitt 17,5 Monate, vor 20 Jahren waren es noch 12 Monate). Wird Berufung eingelegt, vergehen bis zum Urteil des Oberlandesgerichts mittlerweile 37,1 Monate (gegenüber früher 27).

Merkwürdigerweise hat sich auch bei den Amtsgerichten die durchschnittliche Verfahrensdauer – trotz der rückläufigen Eingangszahlen – verlängert, von rund 7 Monaten vor 20 Jahren auf 9 Monate in 2022; erstmals konnte 2023 dieser Trend mit einem leichten Rückgang auf 8,8 Monate gebrochen werden.

Enorme – und teilweise schwer verständliche – Verschiebungen weist die Justizstatistik bei den Verfahrensgegenständen auf. Deutlich weniger geklagt wird in Bausachen (beim AG minus 82,5 Prozent, beim LG minus 23,3 Prozent gegenüber 2005) sowie beim LG wegen Streitigkeiten aus dem Gesellschaftsrecht und dem gewerblichen Rechtsschutz (minus 70 bzw. 66 Prozent im selben Zeitraum). Ein überraschend hoher Zuwachs besteht hingegen bei Verfahren, an denen Versicherungen beteiligt sind: Die Zahl der Haftungsklagen wegen Verkehrsunfällen hat sich seit 2005 um über 90 Prozent erhöht und ist – entgegen dem allgemeinen Trend – allein in den letzten beiden Jahren um fast 32 Prozent auf über 35.000 gestiegen – eine Entwicklung, die nicht mit den Unfallzahlen in Einklang gebracht werden kann. Rasant vermehrt haben sich auch Klagen aus Versicherungsverträgen (wohl hauptsächlich wegen Prämienerhöhung). Sie machen inzwischen rund 8 Prozent des Geschäftsanfalls bei den Landgerichten aus.

Permanent im Rückgang begriffen ist die Inanspruchnahme der Gerichte mit Familiensachen. Bei den Amtsgerichten ist ein Rückgang (seit 2010) um rund 24 Prozent, bei den Oberlandesgerichten um 43 Prozent zu verzeichnen. Drastisch ist der Rückgang bei Unterhaltsverfahren (ca. 58 Prozent bei Kindes-, ca. 64 Prozent bei Ehegattenunterhalt). Bei den Gewaltschutzverfahren war bis 2020 ein starker Anstieg festzustellen; seither sind die Zahlen etwas rückläufig.

S. dazu tabellarische Auswertung der Justizstatistik 2005 – 2024