Dr. Andreas Birkmann, Thüringer Justizminister: Rede anlässlich der Plenarsitzung des Bundesrats am 10.11.2000
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Schubert, Ihr erster Satz ist fast identisch mit dem ersten Satz in meiner Rede. In der Tat hat in den letzten Monaten nichts die Gemüter so erhitzt wie die Diskussion über die ZPO-Reform. Dann trennen sich unsere Wege.
Das gilt schon für die Erkenntnis, wie die Richter und Anwälte reagiert haben. Meiner Meinung nach haben sie die Reform fast unisono abgelehnt, und zwar mit der Erklärung: Das kann so niemals funktionieren.
Wenn ich von Einmütigkeit spreche, denke ich an die Meinungsäußerungen der Oberlandesgerichtspräsidenten, die heute schon erwähnt worden sind, an den Juristentag, an die Gespräche mit dem Richterbund und an den ADAC-Juristentag in Berlin, auf dem der Vorsitzende des Oberlandesgerichts in Brandenburg noch einmal sehr deutlich die negativen Seiten der Reform dargestellt hat. Wenn es eine Reform würde, die ihren Namen verdiente, wäre es eine Jahrhundertreform; denn wir greifen ja in das seit über 120 Jahren bewährte System des Zivilprozesses ein.
Das alles hindert die Bundesregierung offenbar nicht daran, dieses Gesetzesvorhaben mit allen Mitteln durchzusetzen. Das zeigt schon die Art und Weise, wie die Regierung die Dinge hat zusammenlaufen lassen. Wenn jetzt Gesprächsbedarf eingefordert wird, hätte man dies schon viel früher signalisieren sollen, statt es jetzt, da offensichtlich die ablehnende Haltung weitgehend einmütig ist, als Notnagel vorzubringen.
In der Begründung des Gesetzentwurfs wird gesagt, der Zivilprozess solle bürgernäher, effizienter und durchschaubarer werden. Gegen diese Intention hat niemand etwas einzuwenden. Nur: Schaut man sich den Gesetzentwurf in seinen Kernpunkten an, muss man sehr bald feststellen, dass durch ihn genau die gegenteiligen Wirkungen ausgelöst werden. Ich möchte dies einmal aus der Situation eines jungen Bundeslandes dartun.
Frau Kollegin Schubert, eines möchte ich zuvor noch einflechten. Sie haben gesagt, bei Ihnen würde sich die Reform finanziell nicht sonderlich auswirken. Vielleicht hat dies damit zu tun, dass Sie schon sehr viele Amtsgerichte abgeschafft haben.
Ich möchte nun aus der Situation eines jungen Bundeslandes berichten: aus Thüringen: Sie werden öfters vom „Bürger aus Hildburghausen“ hören.
Ein Bürger aus Hildburghausen, einem Ort in Südthüringen, einige Kilometer südlich der Städte Suhl und Meiningen gelegen, wird es angesichts der soeben genannten Ziele kaum als bürgernah empfinden, wenn er für seine Berufungsverhandlung in einem Mietrechtsstreit nun nicht mehr zu dem wenige Kilometer entfernten Landgericht nach Meiningen fahren kann, sondern stattdessen eine Tagesreise nach Jena auf sich nehmen muss, wo das Thüringer Oberlandesgericht ansässig ist.
Die Thüringer Landesregierung empfindet dies ebenfalls nicht als bürgernah und spricht sich deswegen gegen die Abschaffung des Landgerichts als Berufungsgericht und die Konzentration der Berufungen bei einem Gericht, dem Oberlandesgericht, aus.
Unser Bürger aus Hildburghausen wird es kaum als bürgernah ansehen, wenn er seinen Standpunkt nicht noch einmal in einer mündlichen Berufungsverhandlung darlegen kann, sondern nunmehr einen schriftlichen Beschluss des Gerichts zugestellt bekommt mit dem Bemerken, dass seine Berufung keine Erfolgsaussichten habe und der von ihm geführte Rechtsstreit im Übrigen auch keine grundsätzliche Bedeutung für die Allgemeinheit habe.
Auch die Thüringer Landesregierung empfindet dies nicht als bürgernah und spricht sich gegen das im Entwurf vorgesehene Zurückweisungsverfahren in der Berufungsinstanz aus.
Unser Bürger aus Hildburghausen wird es nicht als effizient empfinden, wenn in der Berufungsverhandlung nicht primär über die Sache selbst gestritten wird, sondern darüber, ob das Amtsgericht die Tatsachen richtig und vollständig ermittelt hat oder ob wenigstens ernsthafte Zweifel hieran bestehen.
Die Thüringer Landesregierung spricht sich gegen die Abschaffung einer vollumfänglichen zweiten Tatsacheninstanz aus.
Unser Bürger aus Hildburghausen wird sich wohl auch darüber wundern, dass nicht, wie bisher allgemein üblich, mehrere Richter über die Berufung gegen das Urteil des Amtsrichters entscheiden, sondern wiederum nur ein einzelner Richter. Er wird sich fragen, warum der Richter beim Oberlandesgericht über bessere Fähigkeiten verfügen soll, seinen Fall sachgerecht zu entscheiden, als der Kollege beim Amtsgericht.
Eine Antwort auf diese Frage vermag die Thüringer Landesregierung nicht zu geben. Sie spricht sich daher gegen den obligatorischen Einzelrichter beim Oberlandesgericht ebenso wie gegen die im Gesetzentwurf vorgesehene faktische Abschaffung des Kammerprinzips beim Landgericht aus.
Meine Damen und Herren, durch den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf wird unser Zivilprozess weder bürgernäher noch effizienter noch durchschaubarer. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade die Menschen in den jungen Ländern bringen kein Verständnis dafür auf, dass das geltende Rechtssystem, welches ihnen nach Jahrzehnten endlich das Führen eines rechtsstaatlichen Zivilverfahrens ermöglicht, nunmehr – weil angeblich bürgerfern und ineffektiv – ersetzt werden soll.
Mit unserem geltenden Zivilprozessrecht brauchen wir uns in Europa wahrlich vor niemandem zu verstecken. Die Qualität der deutschen Zivilrechtsprechung wird überall anerkannt, die Verfahren werden ganz überwiegend zügig, aber trotzdem gründlich erledigt. Dies ist heute schon wiederholt gesagt worden; das kann ich für Thüringen bestätigen.
Damit will ich keinesfalls zum Ausdruck bringen, dass es nicht auch noch Verbesserungen geben kann, wie schon Kollege Weiß gesagt hat. Wir wollen uns der Diskussion nicht verschließen, wie es uns im Rahmen der parlamentarischen Beratung vorgeworfen wurde. Einige der im Gesetzentwurf enthaltenen Änderungen, insbesondere soweit sie bereits in dem in der letzten Legislaturperiode leider nicht mehr zur Verabschiedung gekommenen Rechtspflegevereinfachungsgesetz enthalten waren, finden durchaus unsere Zustimmung. Einer völlig unausgegorenen Änderung des im Grundsatz gut funktionierenden Systems des Zivilprozessrechts können wir aber nicht zustimmen.
Unsere Ablehnung des Gesetzentwurfs beruht keinesfalls auf parteipolitischem Kalkül. Im Gegenteil: Wir befinden uns hier im Einklang mit den Stellungnahmen nahezu der gesamten juristischen Fachöffentlichkeit. Der federführende Rechtsausschuss des Bundesrates hat mehrheitlich ebenfalls die Ablehnung des Gesetzentwurfs empfohlen und ferner zu wesentlichen Kernpunkten der Reform wiederholt dezidiert ablehnende Stellungnahmen abgegeben. Meine Damen und Herren, dem Votum dieser Fachleute sollten wir uns nicht leichtfertig verschließen.
Auch den finanziellen Aspekten sollten wir uns nicht verschließen. Denn durch die Reform verliert unser Zivilprozessrecht nicht nur an Qualität, es wird auch noch erheblich teurer.
Aus Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz liegen uns detaillierte, Besorgnis erregende Kostenberechnungen vor. Die Zahlen sind genannt worden: In Nordrhein-Westfalen rechnet man mit Mehrausgaben von 19 Millionen DM, in Rheinland-Pfalz hat man Mehraufwendungen von etwa 10 Millionen DM ermittelt.
Substanziierte Stellungnahmen der Bundesregierung zu diesen Berechnungen sind mir nicht bekannt. Ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass das Justizministerium sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch in Rheinland-Pfalz von Ministern geleitet wird, die nicht der Partei angehören, der seitens der Bundesregierung eine Blockadehaltung in Sachen Justizreform vorgeworfen wird.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch einmal betonen, dass wir in Thüringen uns sinnvollen Änderungen und Ergänzungen des Zivilprozesses keinesfall verschließen werden. Einer Reform um der Reform willen, die ein funktionierendes und anerkanntes Rechtssystem leichtfertig zerstört, können wir allerdings nicht unsere Zustimmung geben.
Thüringen wird daher den Beschlussempfehlungen des Rechtsausschusses dieses Hohen Hauses folgen. Angesichts der enormen rechtspolitischen Bedeutung der Sache kann es nicht angehen, dass der Bundesrat, so wie es in den von den A-Ländern eingebrachten Anträgen zum Ausdruck kommt, auf eine fachliche Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf verzichtet. Es liegt vielmehr im ureigenen Interesse der Länder, sich zu einem Reformvorhaben, dessen Auswirkungen vor allem sie trifft, umfassend zu äußern.